Vorwort

Es gibt Augenblicke im Leben, da wird einem schlagartig bewusst, dass etwas ganz entschieden falsch läuft. Augenblicke, in denen zur Gewissheit wird, dass man einen Schlussstrich ziehen muss. Einen solchen Moment erlebte ich in den ersten Frühlingstagen des Jahres 2010. Auf einmal war mir klar: Ich darf nicht länger schweigen. Die heuchlerische, bigotte Haltung der katholischen Kirche zur Homosexualität brachte mich dazu, mich öffentlich zu outen und gleichzeitig als Herausgeber und Chefredakteur der konservativen Zeitschrift Theologisches zurückzutreten.

Bewusst wählte ich für meinen Schritt an die Öffentlichkeit die Frankfurter Rundschau, da diese das Thema Homosexualität und katholische Kirche in den Vormonaten immer wieder in seriöser Weise aufgegriffen hatte. Am 23. April 2010 erschien dort ein Gastbeitrag von mir, in dem ich mein Outing mit einer weitergehenden Kritik an einigen zentralen Denk- und Handlungsmustern der katholischen Kirche verband. Wie es zu diesem folgenschweren Schritt kam und welche Reaktionen er innerhalb der Kirche auslöste, möchte ich in diesem Buch näher erläutern.

Der letzte Anstoß, der mich veranlasste, meine sexuelle Veranlagung öffentlich zu machen, war ein Auftritt des katholischen Bischofs Franz-Josef Overbeck aus Essen in der ARD-Sendung Anne Will am 11. April 2010.

Am Nachmittag dieses Sonntags hatte ich noch lange mit einem befreundeten homosexuellen Priester telefoniert. Der Seelsorger aus dem Rheinland ist aufgrund seiner Veranlagung, besser gesagt, aufgrund des scheinheiligen Umgangs damit innerhalb der Priesterschaft seiner Diözese, schwer depressiv geworden. Ich tröstete ihn unter anderem mit dem seit 1992 gültigen »Katechismus der Katholischen Kirche«, der gegenüber homosexuellen Menschen Respekt und Taktgefühl fordert und jede ungerechte Zurücksetzung verurteilt. Immerhin finden sich diese doch sehr tolerant klingenden Vorgaben in dem unter Vorsitz des damaligen Kardinals Joseph Ratzinger ausgearbeiteten Werk, das als das aktuellste, alle Katholiken bindende Handbuch der katholischen Glaubens- und Sittenlehre zu gelten hat.

Wenige Stunden später dann das einem Millionenpublikum vorgetragene Verdikt des Essener Bischofs, dass homosexuell zu sein eine Sünde, weil wider die Natur sei. Von Respekt und Taktgefühl sowie Verzicht auf ungerechte Diskriminierung war hier nichts mehr zu spüren.

Nicht nur das Studiopublikum reagierte mit Fassungslosigkeit. Für mich und für viele Menschen, mit denen ich seither über Overbecks Fernsehauftritt gesprochen habe, geht es dabei um mehr als den einmaligen Auftritt eines ehrgeizigen Bischofs aus einer weltkirchlich verhältnismäßig bedeutungslosen Diözese.

Zum Zeitpunkt seiner Aussage, die selbst bei CSU-Politikern für Unverständnis sorgte, stand die katholische Kirche bereits seit Monaten wegen zahlreicher Missbrauchsfälle in der Kritik. Was die betroffenen Ortskirchen in Österreich, den Vereinigten Staaten und Irland an den Rand des moralischen und finanziellen Ruins getrieben hatte, trat nun auch in Deutschland ans helle Licht der Öffentlichkeit. Schnell wurde klar, dass die im Januar 2010 durch einen mutigen Brief von Pater Klaus Mertes, Rektor des Berliner Canisius-Kollegs der Jesuiten, bekannt gemachten Vorfälle systematischen sexuellen Missbrauchs von Schülern seiner Schule nur die Spitze des Eisbergs waren. Die von der Bild-Zeitung regelmäßig aktualisierte »Karte der Schande«, eine Deutschlandkarte, auf der von katholischen Priestern verübte Missbrauchsfälle eingetragen wurden, bekam im Eiltempo immer mehr rote Punkte. Ermutigt durch das öffentliche Klima, das von Mitleid mit den Missbrauchten geprägt war, meldeten sich auch erste Opfer eines deutschen Diözesanbischofs, des Augsburger Oberhirten Walter Mixa, zu Wort. Der Fall dieses Bischofs, dem man Misshandlung von Schutzbefohlenen und Veruntreuung von Geldern vorwarf und der erst hartnäckig leugnete, um dann scheibchenweise seine Verfehlungen einzugestehen, ist geradezu exemplarisch für eine Kirchenkrise, die viele bereits als die »schwerste Krise der katholischen Kirche seit der Reformation« [1] bezeichnen.

Bei genauerem Hinsehen geht es aber nicht nur um die Verbrechen, deren sich Geistliche schuldig gemacht haben. Denn die »tiefe Erschütterung und Scham«, von der Pater Mertes in seinem Brief an ehemalige Schülerinnen und Schüler des Canisius-Kollegs sprach, und die Offenheit und Ehrlichkeit, mit der er sich an die Aufklärung der Fälle in seinem Orden wagte, sind keineswegs typisch für den Umgang der Kirche mit diesem Problem. Im Gegenteil, traditionell ist das Hauptanliegen der zuständigen kirchlichen Stellen in solchen Fällen eher Vertuschung und Geheimniskrämerei.

Die Glaubenskongregation, der der heutige Papst seit 1981 Vorstand, ist hier mit schlechtem Beispiel vorangegangen. In diesem Zusammenhang sei nur auf den im März 2010 bekannt gewordenen Fall des amerikanischen Priesters Lawrence C. Murphy hingewiesen, der über Jahrzehnte an die zweihundert gehörlose Jungen sexuell missbrauchte. Obgleich der zuständige Ortsbischof den Fall wie vorgeschrieben der Glaubenskongregation meldete und um Konsequenzen bat, blieb eine Antwort lange Zeit aus, bis der unter Ratzinger arbeitende Kardinal Bertone den Fall, ohne dass irgendetwas im Sinne einer Entschädigung der Opfer passiert wäre, kurz vor der Jahrtausendwende kurzerhand für abgeschlossen erklärte. [2] Dieses Beispiel zeigt sehr anschaulich, dass die katholische Kirche dazu neigt, unangenehme Dinge möglichst unter den Teppich zu kehren.

Das Motiv dafür ist allerdings in den seltensten Fällen Scham über das Vorgefallene oder falsche Barmherzigkeit gegenüber den Tätern, wie manch einer glauben mag. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Aufrechterhaltung von Macht und, damit eng verbunden, die Wahrung des heiligen Scheins, der frommen Fassade der Kirche. Im Licht dieses heiligen Scheins bringen Kirchenfürsten katholische Positionen und sich selbst als das moralische Gewissen der Menschheit ins politische Gespräch ein. Den Hintergrund dafür liefert das Dogma von der Heiligkeit der Kirche, das jeder Katholik im Glaubensbekenntnis betend immer wieder zu bekennen verpflichtet ist. Jenen, die es wagten, an diesem Dogma von der unvergänglichen Heiligkeit der katholischen Kirche zu zweifeln, unterstellte der heutige Papst in seiner Einführung in das Christentum schon 1968 »versteckten Stolz« und »gallige Bitterkeit«. [3]

Die alten Verhaltensmuster wirken bis zur Stunde fort: Nachdem das Leid der Opfer und die zahllosen Verbrechen nicht mehr zu leugnen sind, verlegt man sich auf Schuldzuweisungen an Sündenböcke, die der Kirche ohnehin schon lange suspekt sind. In diesem Zusammenhang greift man auch auf sehr unheilige Mittel zurück, um den schönen Schein einer katholischen Märchenwelt wider alle Vernunft irgendwie am Leben zu erhalten.

So stellte der zweithöchste Mann der Kirche neben dem Papst, Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone, im April 2010 bei einer Pressekonferenz in Chile einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Homosexualität und den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche her. Demnach sind nicht die eigentlichen Täter, nicht die Priester, nicht die rigide Sexualmoral der katholischen Kirche mit ihrem krampfhaften Festhalten am Zölibat schuld an den zahlreichen Missbrauchsfällen, nein, schuld sind angeblich die Homosexuellen. Bertone behauptete, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass Zölibat und Pädophilie nichts miteinander zu tun hätten. Sehr wohl aber hätten Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen Homosexualität und Pädophilie festgestellt, was ihm kürzlich erst bestätigt worden sei. Die Information, um welche Wissenschaftler es sich dabei handelt und auf welchen Studien ihre Theorien basieren, blieb der hohe Kirchenfürst seinen lateinamerikanischen Zuhörern jedoch schuldig. [4]

Nach Bertones chilenischem Gastspiel dauerte es nicht lange, bis der in seiner brasilianischen Heimat sehr populäre Erzbischof Dadeus Grings für die Missbrauchsfälle junge Schwule verantwortlich machte, die die ansonsten integren Priester schlichtweg verführt hätten, und forderte daher, Homosexualität generell wieder unter Strafe zu stellen. Und Simone Scatizzi, der Bischof der italienischen Diözese Pistoia in der Toskana, erklärte seinen Landsleuten angesichts des Missbrauchsskandals, wo die Wurzel aller schwerwiegenden Probleme unserer Tage liege: Die schändliche Legalisierung der himmelschreienden Todsünde der Homosexualität sei der ursächliche Vorläufer für »die Zulassung von Pädophilie, Mafia-Organisationen, Terrorismus und Präventivkrieg«. [5] Um der Diskriminierung von Homosexuellen noch die von Frauen hinzuzufügen, mutmaßte er weiter, Homosexualität sei verantwortlich für die fortschreitende katastrophale »Verweiblichung der Gesellschaft«. Über sexuellen Missbrauch dürfe man sich da wahrlich nicht wundern.

So werden auf perfide Weise Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern umgedeutet. Ähnliche Äußerungen kommen auch von anderen hochrangigen Kirchenvertretern, die bezeichnenderweise alle dem konservativen bis reaktionären Katholizismus zuzurechnen sind. Zunächst rufen solche Aussagen vielerorts Fassungslosigkeit hervor, doch bei näherer Betrachtung sind sie innerhalb des Systems der konservativ-katholischen Kirche weitaus folgerichtiger und konsequenter, als man gemeinhin annimmt.

Was all die hochrangigen Kleriker allerdings übersehen bzw. übersehen wollen, ist die andere Seite der Medaille: Die Zahl homosexuell veranlagter Priester in der katholischen Kirche wird von Experten auf zwanzig bis vierzig Prozent geschätzt, ist damit also etwa viermal so hoch wie der Anteil Homosexueller an der Gesamtbevölkerung. Der bekannte Psychotherapeut Wunibald Müller, der sich seit vielen Jahren intensiv mit dem Thema beschäftigt, schätzt den Anteil homosexuell veranlagter Priester gar auf fünfzig Prozent. Und der Jesuit Hermann Kügler bezeichnete die katholische Kirche in einem Interview mit dem Spiegel vom 25. November 2005 als die weltweit »größte transnationale Schwulenorganisation«. Man fragt sich natürlich, wieso eine Institution, der eine so große Zahl homosexuell Veranlagter angehört, eine derart krasse Homophobie an den Tag legt. Ebenso verwunderlich erscheint es auf den ersten Blick, dass diese homosexuellenfeindliche Organisation so viele Homosexuelle geradezu magisch anzieht. Darauf gehe ich später noch ausführlich ein.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Homosexuellenfeindlichkeit in der katholischen Kirche war für mich mit dem Ausspruch Overbecks der Zeitpunkt gekommen, an dem mir endgültig klar wurde, dass im ungeschriebenen Katastrophenplan der katholischen Kirche etwas entschieden falsch lief. So unangenehm die Konsequenzen für mich sein würden, zu solchen vor Bigotterie strotzenden Äußerungen durfte ich nicht länger schweigen. Die schmerzliche Einsicht, dass ich mich durch meine langjährige Arbeit in verschiedenen herausgehobenen Positionen innerhalb dieser fundamentalistischen Bewegung in gewisser Weise mitschuldig gemacht hatte, verstärkte noch meine Motivation, endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Die Scheinheiligkeit, mit der hier agiert wurde, war mir schon längere Zeit zuwider, doch erst jetzt fand ich den Mut, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.

Der heilige Schein
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